DEADPOOL

DEADPOOL… ODER: TRAUMMANN FÜR BEATRIX KIDDO BEI MARVEL GESUCHT!

Eine Gastkritik respektive ein Gast-Essay von Caroline „Carrie“ Steinkrug

„Das Theater darf nicht danach beurteilt werden, ob es die Gewohnheiten seines Publikums befriedigt, sondern danach, ob es sie zu ändern vermag“; betonte einst Altmeister Bertolt Brecht, bevor er damit begann, im letzten Jahrhundert die Konventionen des Theaters völlig über den Haufen zu werfen. Während die Bühnenkunst vor ihm noch darauf bedacht war eine Zweitwelt zu kreieren, die ihr Publikum lediglich als stummen Zuschauer sah und in ihrem völlig eigenen Universum versank, beschritt Brecht einen gänzlich anderen Weg. Er begann damit den Theaterbesuchern das Theater zu erklären. Seine Figuren durchbrachen die vierte Wand (eine imaginäre Barriere zwischen dem Zuschauer und den Schauspielern), um so den Leuten direkt und unmissverständlich das Geschehen auf der Bühne zu erklären – es auszustellen. Sie wendeten sich ab von einer Ästhetik des Distanzierten hin zu einer Form der unmittelbaren Beteiligung von allen Anwesenden im Saal. Die vorgeführten Dramen wurden somit zwar quasi entzaubert und brutal in die Realität geholt, aber (und das ist das Entscheidende), sie wurden stets öffentlich diskutiert. Immer am Puls der Zeit. Der Begriff des Epischen Theaters war geboren, die klassische Illusionsbühne dahin und die glitzernde Scheinrealität des Rampenlichts erloschen, um die Leute dazu anzuregen die Gesellschaft zum Besseren zu verändern.

…ja, genau. Schön! Und nun? Was hat das Ganze mit DEADPOOL zu tun, fragt man sich. Ist das nicht ein bisschen hoch gegriffen einen intellektuellen Dramaturgen mit einer dahergelaufenen Comic-Erfindung zu vergleichen? NEIN! Andere Zeiten, andere Methoden. Ein ganz anderer Puls der Zeit.

DEADPOOL und „Bertolt“ haben also eine Menge gemeinsam. Wie ich finde. Um die Philosophie dieser besonderen Comic-Verfilmung also verstehen zu können, lohnt sich ein eingängiger Blick hinter den obszönen und meist doch recht brutalen Maskenmann. Denn auch eine Popkultur, die sich dadurch auszeichnet, dass sie immer in den unpassendsten Momenten die gedacht schlechtesten Worte findet, ist und bleibt letztlich doch eine Form der Kunst. Nur eben im Comic. Und somit gehört der graphic novel [zu dt.: grafischer Roman] unbestreitbar mit dazu. Zur Kunst. Zur populären. Und die darf das.

DEADPOOL ist anders und ungewohnt, was Superhelden-Konzepte angeht. Soviel lässt sich mit Sicherheit sagen. Aber wieso eigentlich? Und in welche Schublade sollen wir ihn stecken? Ist er wirklich ein Held? Ein Anti-Held? Ein Bösewicht? Oder einfach nur ein egoistischer Söldner? Denn schließlich geht es ihm nicht um die Rettung der Welt, sondern rein um seine eigene Rache.

Diese Entscheidung liegt wohl im Auge des Betrachters und ein stückweit sicherlich auch im eigenen Gusto. Dennoch zeichnet DEADPOOL einiges aus, was die Figur und ihren Film auf skurrile Weise episch wirken lässt. Er verändert das Comic-Genre indem er die Gewohnheiten des Publikums bricht und verändert. Eben ein bisschen wie Brecht. Nur im Kino. Und nicht mit einer vierten Wand, die durchbrochen wird, sondern mit einem Screen, der als Trennwand verschwindet.

DEADPOOL alias Wade Wilson (gespielt von RYAN REYNOLDS) spricht uns als Kinozuschauer direkt an. Er schaut uns in die Augen. Durch die Kamera hindurch. Ein Vorgang, der im klassischen Kino eigentlich völlig verpönt ist, da eben in den meisten Fällen eine Illusion von einer geschlossenen Welt geschaffen werden soll, die in sich funktioniert, aber „die Realität im Kinosaal“ ausgrenzen will und muss. Da diese sonst ihrer eigenen Perfektion schadet. Dieser Marvel-Figur ist das aber egal. Sie ignoriert die Leinwand einfach, so wie sie fast alles ignoriert was sie nervt. Sie spricht uns an. Direkt und unmissverständlich. Dadurch werden wir als Zuschauer miteinbezogen und wir werden dazu eingeladen über die Handlung mitzudiskutieren. Oder aber sie wird uns Brecht-typisch vorgeführt, um von uns eine Bewertung zu fordern.

Hinzu kommt, dass folglich auch der unnahbare Zauber, die Heiligsprechung des Superhelden-Typus, deutlich Risse bekommt. Das Mysterium des „perfekten Menschen“, des leidenden Helden auf einer „Reise des Odysseus“ existiert hier nicht. Fertig. Ende. Schluss. Langweilig. Schon tausendmal da gewesen. Gähn! Captain America ist out!

Schauen wir uns unter diesem Aspekt die Welten von Spider-Man, Superman oder den „Avengers“ an. Was erleben wir dort immer und immer wieder? Perfekte, CGI-ausgestaltete Illusionsszenarien mit noch perfekteren Hauptdarstellern, die mal wieder die Welt retten. Und das Kinoprogramm ist voll damit. Quasi übersättigt. Zeit für Episches Kino im brecht`schen Sinn – würde ich sagen! Wir brauchen etwas Neues in dieser Kategorie, etwas mit dem wir nicht rechnen, jemanden, der die Klappe aufmacht. Oder die seiner Feinde schließt. Für immer und sehr blutig. Und das tut Wade Wilson ständig und unaufhörlich. Reden. Es ist nicht immer alles Gold, was da rauskommt – keine Frage – aber das muss bei so viel Text auch nicht unbedingt sein. Im Übrigen redet DEADPOOL am liebsten über sich selbst und über seine ganz eigene Sicht der Dinge. Dabei macht er auch vor der Glitzerwelt Hollywoods, aktuellen Filmen, Serien und „Kollegen“ nicht halt. Spider-Man scheint in diesem Fall sein Lieblingsziel zu sein. Das sieht man nicht nur an dem Design seines Kostümes, sondern vor allem auch an dem bitter-süßen Verhältnis zu seiner Quasi-Geisel, Mitbewohnerin respektive Haushälterin Blind Al (LESLIE UGGAMS), das deutlich an eine Peter-Parker-Tante-May Persiflage erinnert.

Aber genau diese Bezüge zu aktuellen Medien (und Ikea!) bringen DEADPOOL an den Puls der Zeit. Den Puls einer jungen Generation, die mit Comic-Heften aufgewachsen ist. So wie ich. Comic-Kino für Erwachsene quasi. Keine Frage. Kinder sollten sich das ersparen. Genauso wie das schwedische Möbelhaus, wenn es keine Kinderabteilung hätte.

Um einer Superhelden-Perfektion zu entgehen setzt der Film darüber hinaus viel mehr auf Handgemachtes (was die Hauptfigur nicht müde wird zu betonen, beispielsweise in dem Moment, in dem er sein Outfit kreiert und sagt, dass er nicht so ein CGI-generiertes Model haben will wie Spider-Man). Deswegen ist auch sein vernarbtes Gesicht, das durch die Mutation entsteht – quasi handgemacht. Richtige Maskenteile eben, die in die Philosophie eines Regisseurs wie Quentin Tarantino passen könnten, der nur real existierende Dinge auf der Leinwand als angsteinflößend empfindet. Und das auch gerne ästhetisch propagiert. So wie dieser Film, der mit Sicherheit auch optisch gerne „Bill killt“. Spezialeffekte sind in DEADPOOL also eher zweitrangig. Natürlich geht das aber nicht überall. Wer kann schon live aus einem sich überschlagenden Auto springen, ohne sich dabei alle Knochen zu brechen?

Dennoch – und das zeichnet diesen Film aus – versucht er zumindest auch hier wieder auf die guten alten Martial-Arts-Praktiken zurückzugreifen, um seine Kämpfe echt wirken zu lassen. Wir sehen keine animierten Prototypen durch die Gegend fliegen, sondern weitestgehend (wenn möglich) echte Menschen. Diesen Fakt betont auch die Waffenauswahl von DEADPOOL (Katana-Schwerter und Schusswaffen). Es handelt sich hierbei nicht um imaginierte Protonenstrahler, sondern um reale Waffen. Dinge, die wir kennen und in unserer Welt (leider!) erleben. Die Effekte nerven ergo nicht, weil sie nicht alles andere überlagern. Vergleichen wir es einfach plump mit den Hochglanz-Titelbildern der Vogue, die dermaßen bearbeitet sind, dass es einen schon anödet, weil nichts, aber auch gar nichts mehr an den Fotomodels echt ist. Das ist Superman. Ein DEADPOOL ziert wohl eher das Cover des Rolling Stones Magazins. Großartig. Das eine ist schön. Das andere ist cool. Was würden Sie wählen?

DEADPOOL ist derb, direkt, voller Fehler und ein stückweit sicher auch niveaulos. Er ist definitiv ein Bad-Ass (mit einem Hello-Kitty-Rucksack!), aber er ist eben auch erfrischend, selbst-ironisch-reflektierend und ja, verdammt, ich finde die Zeit ist da, um mit der Perfektion der Comic-Helden-Verfilmungen zu brechen! Zeit für Episches (Anti-)Heldenkino – im brecht`schen Sinne. Perfektion ist out – Fehler sind in! Das macht Spaß! (= 4 „Carrie“-PÖNIs).

Teilen mit: