GANZ ODER GAR NICHT

PÖNIs: (5/5)

„GANZ ODER GAR NICHT“ von Peter Cattaneo (GB 1996; B: Simon Beaufoy; K: John de Borman; M: Anne Dudley; 91 Minuten; deutscher Kino-Start: 30.10.1997).

Ist es der pure Zufall, dass nach den bemerkenswerten britischen Filmen wie „Brassed Off“ und „Trainspotting“ (s. Kino-KRITIK) schon wieder ein neuer britischer Klasse-Film vorgestellt wird? Gibt es da Verbindungen??? Kein Zufall, und: natürlich gibt es Verbindungen. Die darin bestehen, dass man in Großbritannien filmmäßig weitaus mutiger als z.B. in Deutschland gegenüber aktuellen politischen und sozialen Themen ist. Dort überlegt man: Wie kann ich brisante Gegenwarts- und Alltagsproblematiken so geschickt und intelligent in einem Spielfilm thematisieren, dass daraus keine langweilige/belehrende/statistische Pseudo-Dokumentation wird, sondern eine plausible wie unterhaltsame KINO-Show. Will sagen: Mit Filmen wie im Vorjahr „Trainspotting“, der das Drogen-Milieu frech und süffisant beleuchtete, und jetzt „Shooting Fish“, der Arbeitslosigkeit als kreative Chance/zum kreativen Spaß erklärt, sowie „Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten“, der die Blas-Musik zum proletarischen Wut-Ventil bestimmt; mit solchen Filmen werden vor allem d i e Leute angesprochen von denen diese Filme erzählen. Denn: Hier werden sie nicht veralbert, denunziert, lächerlich gemacht, sondern im Gegenteil: zu mutigen, schrägen Akteuren des harten Alltags ausgerufen!!!

Wie schon gesagt: Hierzulande ist man entweder zu feige oder zu bequem oder zu dumm, „solche“ Filme auch nur gedanklich zu entwerfen. Hier befasst man sich viel lieber mit dem eigenen Bauch oder Unterleib, berichtet von den unsäglichen Beziehungsproblemen oder hebt ab ins geistige Nirvana, also ins Spinnerte. An dieser Stelle stellt sich aber trotzdem die Frage: Wie kann das zusammengehen, Arbeitslosigkeit und Kino-Entertainment?

Das beste und prächtigste Beispiel ist dieser neue britische Film „Ganz oder gar nicht“. Nachdem wir neulich – mit dem Film „Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten“ – in Yorkshire waren, um den dortigen Ex-Bergarbeitern bei ihren kraftvollen musikalischen Auftritten zuzusehen und zuzuhören, richtet sich der Blick jetzt auf die einst so blühende Stahlgießerstadt Sheffield. Sheffield, das war früher das Solingen Englands/die Stadt der Klingen und Scheren. Noch in den 70er Jahren galt Sheffield als ‚Stadt im Aufbruch‘, wirtschaftliche Blüte wo man hinsah. 25 Jahre später sieht man nur noch verlotterte Fabrikanlagen, geschlossene Werkhallen und eine Stadt, die sich selbst aufgegeben hat. (Der Stahl hat großen Rost angesetzt.)

Hier lebt Gaz. Ein Bursche in späten Jugendjahren, geschieden und arbeitslos. Die Alimente für die Ex-Frau stehen an, ansonsten wird das Besuchsrecht für den geliebten 9-jährigen Sohn gestrichen. Aber: Woher nehmen? Doch Gaz ist nicht auf den Kopf gefallen. Als er sieht wie in der Stadt der Auftritt einer Männer-Strip-Gruppe von vielen weiblichen und zahlenden Besuchern umjubelt wird, ist es für ihn beschlossene Sache: SO ETWAS kann ich/können wir auch. Also sucht er sich einige Gleichgesinnte, die natürlich so das ziemliche Gegenteil von dem darstellen, was erwartungsvolle Frauen von einer strippenden Boy-Group erhoffen. Also: Statt attraktiver Muskelpakete bietet die neue 6er-Gruppe den suizid-gefährdeten Lomper mit Hühnerbrust an, den dicklichen Dave mit häuslichen Potenzstörungen; den älteren Ex-Manager Gerald, der seit 6 Monaten arbeitslos ist, dies aber sich nicht traut, seiner Frau zu sagen; dann der ältere Horse, der den Film „Flashdance“ mag und noch recht beweglich ist; während der junge Guy einzig und allein aus anatomisch leicht ersichtlichen Gründen mitschwingen darf. Während Gaz den guten Takt vorgibt. Ihr Motto: Gemeinsam tanzen wir stark.

Also werden Popklassiker von Donna Summer über Hot Chocolate bis Tom Jones ausgebuddelt und fertig ist die textilfreie Arbeit. Doch ganz so störungsfrei und fröhlich läuft die Show natürlich nicht ab, denn da gibt’s ja immer noch die persönlichen/privaten Alltäglichkeiten und Wehwehchen; und außerdem gilt es natürlich auch erst einmal den ‚inneren Schweinehund‘ zu überwinden. Alles in allem: Ein waghalsiger Balanceakt auch für den Film, immer den richtigen und oft auch komischen Ton bei all der sozialen Tragik und den individuellen Nöte zu finden. Aber es funktioniert. Weil hier der gute, sprich glaubwürdige und intelligente wie komische Ton haargenau/präzise getroffen wird. Weil diese komplizierte Mixtur aus Sozialkritik und Show stimmungsmäßig bestens gelingt/herüberkommt. Keine dumpfe Schadenfreude, sondern lachen ohne falsche Scham.

„Ganz oder gar nicht“ ist ein wunderbarer Film wie ihn derzeit nur die Briten drehen können: Er ist ein Proll-Drama, das soziale Missstände vorzeigt, ohne sich dabei in Bitterkeit zu verlieren; und er ist eine gelungene/fantastische Komödie deshalb, weil ihre Figuren niemals denunziert werden und keine Witze auf ihre Kosten gemacht werden. Man lacht MIT Gaz und Kumpels, aber niemals über sie. Das ist der Trumpf und Triumph dieses tollen Films. Der einmal mehr davon erzählt, wie man keine Chance hat im Leben und diese deshalb umso vehementer nutzen soll.

ROBERT CARLYLE, dieser schmächtige, lebende/temperamentvolle Typ, ist seit „Trainspotting“ bekannt, wo er als Extrem-Gewalttätiger überzeugte. Und neulich, in „Carla’s Song“ von Ken Loach, spielte er nuanciert einen Busfahrer aus Glasgow, der in die ‚große Politik‘ einsteigt. Hier nun wieder überzeugt er als schmächtiges Energiebündel, das nicht aufgeben will/das sich nicht niedermachen lassen will. Robert Carlyle: kein heldenhafter Strahlemann, sondern ein britisch-bodenständiger Motor mit Zukunft. Um ihn herum: ein erstklassiges Ensemble mit vorzüglichen Individuen und Persönlichkeiten. Das Kino-Debüt von PETER CATTANEO entpuppt sich in diesen Tagen als Juwel! Motto: „What A Feeling!“

Müssen wir hierzulande nun in Sachen Film neidisch auf die Kreativität unserer Nachbarn schauen? Ja. Wenn wir Grips haben. Und: Vielleicht sollten sich einige unserer Filmschaffenden einmal die ganze neue Palette von britischen Filmen genauer ansehen und anhören. Denn das sind: Lehrfilme. Lehrfilme in Sachen Kunst und Spaß, in Sachen Politik und Ironie, in Sachen Gesellschaft und Humor. Von Ent- und Verblödung wie vielfach im neuen deutschen Kino keine Spur… Ich gebe zu: Da wird man neidisch (= 5 PÖNIs).

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