CARLOS – DER SCHAKAL

„CARLOS – DER SCHAKAL“ von Olivier Assayas (Co-B + R; Fr/D 2009; Co-B: Dan Franck, Daniel Leconte; K: Yorick Le Saux, Denis Lenoir; 190 bzw. 330 Minuten; deutscher Kino-Start: 04.11.2010); eigentlich, nein tatsächlich, ist diese Produktion eine gigantische dreiteilige Fernsehserie. Die im Frühjahr auf dem Cannes-Filmfest außerhalb des Wettbewerbs als GESAMTFILM vorgeführt und begeistert aufgenommen, gefeiert wurde. Hierzulande kommt der Film entweder in einer (vom Regisseur) gekürzten Version von 3 Stunden- plus in die Kinos oder auch in der kompletten 5 ½ Stunden-Version. Gleich gesagt – es lohnt sich unbedingt ihn VOLLSTÄNDIG zu sehen. Denn er ist ein Erlebnis der besonderen Film-Art. Seit dem faszinierenden ersten „Heimat“-Langfilm von Edgar Reitz – „Heimat – Eine deutsche Chronik“/1984; insgesamt 924 Minuten – habe ich nicht mehr so gerne, so lange im Kino „unbeschwert ausgeharrt“.

OLIVIER ASSAYAS: 1955 in Paris geboren. Startete seine Karriere als Filmkritiker für DIE französische Filmzeitschrift – „Cahiers du cinéma“. In den 80er Jahren begann er Kurzfilme zu drehen, war als Drehbuch-Autor tätig. „Lebenswut“ war 1986 sein Debütspielfilm als Drehbuch-Autor und Regisseur. Es folgten auch bei uns bekannt gewordene Filme wie „Das Winterkind“ (1989); „Irma Vep“ (1996) und „Clean“ (2004). Hier nun taucht er in die Epoche des modernen Terrorismus ein. Motto: Wie alles begann. Wie „unsere Welt“ ihre endgültige Nachkriegs-„Unschuld“ verlor. Zu Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Als „Die Hure des Kalten Krieges“ („Spiegel“-Überschrift in dieser Woche) auftauchte. Und weltweit für Aufruhr, Entsetzen, Wut, aber auch für eine „insgeheime Bewunderung“ sorgte: ILICH RAMÍREZ SÁNCHEZ. Am 12. Oktober 1949 als Sohn eines Rechtsanwalts in Venezuela geboren. Seine beiden Brüder hießen Vladimir und Lenin, nach Wladimir Iljitsch Lenin. Mit 10 Jahren trat er in die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei ein. Nach der Scheidung der Eltern zog er mit der Mutter nach London. Auf Wunsch des Vaters studierte er ab 1968 in Moskau, an der Patrice-Lumumba-Universität. Wo er zwei Jahre später wegen seines „ausschweifenden Lebensstils“ ‘rausgeworfen wurde. Er ist 20, als er sich in Beirut beim Chef der „palästinensischen Befreiungsfront“ Wadi Haddad vorstellt. 1974 verübt er sein erstes Attentat in London. Auf einen jüdischen Geschäftsmann. Fortan zieren Blut, Gewalt/Terror und Tod seine Lebensspuren. Mit spektakulären, brutalen Aktionen wird er mehr und mehr „bekannt“. 1975, nach einem Mord in Paris, findet man im Zusammenhang mit den polizeilichen Ermittlungen über einen Waffenkoffer den berühmten Roman „Der Schakal“ von Frederick Forsyth versteckt (den der österreichische Hollywood-Regisseur Fred Zinnemann (“High Noon/12 Uhr mittags“) 1973 so grandios verfilmte). Fortan wird Ilich Ramírez „CARLOS“ tituliert.

Im Dezember 1975 führt er das Terror-Kommando an, das in Wien die „offene“ OPEC-Konferenz überfällt. Das Treffen der internationalen Öl-Minister. DIE Carlos als Geisel nimmt. Fast der gesamte zweite Filmteil widmet sich minutiös dieser Aktion, die zum Wendepunkt im globalen West-Ost-Dasein werden soll. Spätestens hier endet die westliche Unbefangenheit, Art-Unschuld. Liberalität. Deshalb ist es spannend mit anzusehen, wie hier noch ohne besondere Kontrollen, Überwachung, ohne Video-Kameras, ohne sonderliches Misstrauen seitens der Politik und „Veranstalter“ die Angreifer „herumstolzieren“ konnten. Durften. Am Flughafen ist es ein Leichtes, schnell mal eine Rakete auf ein israelisches Flugzeug von der offenen Besucher-Terrasse aus abzufeuern. Kontrollen, Kontrolleure befanden sich noch im Tiefschlaf. Telefoniert wird im Häuschen auf der Straße und – es darf noch ständig wie ununterbrochen GERAUCHT werden. Überall. Vor allem IN Räumen.

„Carlos – Der Schakal“ ist auch DER absolute Raucherfilm, denn der Glimmstängel geht bei sämtlichen Beteiligten, vor allem aber bei Carlos selbst NIE aus. Es wird gepafft, was das „revolutionäre“ Zeug hält. Was waren DAS für Neulich-Zeiten! Der Nahe Osten, Ungarn, vor allem aber die DDR werden zu ständigen Rückzugsgebieten für den charismatischen Carlos. Der nunmehr ein eigenes terroristisches Söldner-Team befehligt, in dem sich auch einige Handlanger-Deutsche befinden. Wie seine Ehefrau Magdalena Kopp, Johannes Weinrich, Hans-Joachim Klein oder Gabriele Kröcher-Tiedemann. Zerstörung und Tote pflastern ihren (Auftrags-)Weg. Aus „Terrorismus“ ist längst „Business“, ist längst ein lukratives Geschäft entstanden. In dem sich Carlos, der Phantom-Held, als eine Art „Pop-Terrorist“ gerne suhlt („Die Waffe ist die Verlängerung meines Körpers“). Und es sich gut-gehen lässt. Mit den „üblichen Annehmlichkeiten“ eines teuren, aufwendigen Lebens. Revolutionäre Aktionen und ihre luxuriösen Auszeiten „dazwischen“. Die politischen Alibis werden noch konfuser. Und sind auch nicht mehr überall opportun. Die gut zahlenden „Vorgesetzten“ ziehen sich zurück. Carlos, der radikale Bourgeois. 1989, mit dem Fall der Mauer und dem „offiziellen“ Ende des Kalten Nachkriegs-Krieges, ist sein Absturz „fällig“. 1994 wird er im Sudan verhaftet und nach Frankreich ausgeliefert. Dort sitzt er heute lebenslang im Gefängnis.

Der Film will keine Biographie sein. Olivier Assayas im Presseheft: „Mein Film basiert auf Ergebnissen der Recherche zeitgeschichtlicher und journalistischer Dokumente. Abgesehen davon sind wichtige Abschnitte im Leben von Carlos undokumentiert und somit diskussionsfähig. Dieser Film ist damit vor allem eine filmische und fiktionale Aufarbeitung von zwei Jahrzehnten im Leben eines der berüchtigtsten internationalen Terroristen unserer Zeit“. Egal wie – dieser Film ist ein Hammer. Politische, gesellschaftliche Zeitgeschichte wird packend „aktiviert“. Innenwelt-Zusammenhänge einer „kürzlichen Epoche“ werden sichtbar, deutbar gemacht. Nicht dokumentarisch, sondern im aufwändigen Rahmen eines außerordentlich intensiven, überzeugenden, kraftvollen wie SEHR atmosphärischen, aber sich nie anbiedernden Unterhaltungspolitfilms.

Ohne heldenhafte Glorifizierung eines Mörder-„Idols“. Ohne die heimliche Faszination an einem Killer. Ohne Anzüglichkeiten hier, ohne Verdächtigungen dort, ohne personell draufzuschlagen, ohne genüssliche Blut-Widerlichkeiten. Souverän nimmt Assayas die Spuren dieses einstigen „Top-Terroristen“ auf und entwickelt, sammelt gedankliche, geographische und politisch „authentische“ Geschehnisse. Dabei „ganz nah“, wie „wirklich“, mit einer verblüffenden Dauer-Energie. „Carlos – Der Schakal“ ist filmischer Starkstrom. Natürlich nicht nur optisch, verbal, gedanklich, sondern vor allem – DARSTELLERISCH. Das Ensemble ist bis in kleinste Nebenfiguren hinein absolut großartig. Vor allem deutsche Akteure wie NORA VON WALDSTÄTTEN (na gut, sie stammt aus Wien) als Frau Carlos bzw. Magdalena Kopp; dieser ungeheuer nervöse, ständig gereizte, diabolische ALEXANDER SCHEER als Carlos-Wegbegleiter Johannes Weinrich; CHRISTOPH BACH als fiebriger Hans-Joachim Klein (der heute in Frankreich Schafe hütet) oder JULIA HUMMER als durchgeknallte Gabriele Kröcher-Tiedemann und selbst, ganz kurz nur, aber eindringlich, UDO SAMEL als österreichischer Bundeskanzler Bruno Kreisky, setzen überzeugende darstellerische Glanzzeichen.

ER aber überragt alle und alles. Muss er auch, denn er ist in fast jeder Szene dieses ereignisreichen langen Films an vorderster Front: Der am 25. März 1977 in Caracas geborene venezolanische Schauspieler ÉDGAR RAMÍREZ. Der fließend spanisch, englisch, französisch, italienisch und deutsch sprechende Darsteller fiel bislang als Nebenfigur in Action-Movies wie „8 Blickwinkel“ und im letzten Bourne-Abenteuer „Das Bourne Ultimatum“ (beide 2007) ebenso kaum auf wie im ersten Teil des Polit-Dramas „Che“ von Steven Soderbergh (2008). Hier nun der Olymp. Die Krönung. Der „Oscar“ wäre sicher, wenn er denn nominiert werden könnte; darf er aber nicht, weil der Film nicht als „direkter“ Spielfilm, sondern als TV-Serie konzipiert wurde. Ramírez, der anfangs, mit Baskenmütze, wie der junge Torsten Frings von Werder Bremen „locker“ ausschaut (allerdings mit einer Waffe anstatt eines Balles in der Hand), wandelt sich vom kaltblütigen, machtgierigen, geldgeilen, furchterregenden, eiskalten Kämpfer zum lächerlich-feisten Auslaufmodell und Narziss-Verlierer. WIE das „unbemerkt“ Édgar Ramírez mimt, WIE er sich bewegt, WIE er überzeugend „hantiert“, wenn er sich nur die Zigaretten/Zigarren anzündet, WIE er überhaupt diese auch sprachlich „schwierige“ Figur (in der Originalfassung mit Untertiteln) jederzeit souverän „hinkriegt“, WIE er sie dann körperlich nach und nach „verändert“ und zu einem 20 Kilogramm feisten Wohlstands-Macho-Gangster hinführt, ist einfach nur sensationell. Brillant. Die Zeitschrift „Empire“ sprach in Cannes von einem „hypnotischen Auftritt“; in Fachkreisen wurde er als neuer „Marlon Brando“ bezichtigt. Édgar Ramírez gelingt mit Bravour, unangestrengter Dichte, Tiefe und Souveränität in diese legendäre Terror-Figur einzusteigen und körperlich wie innerlich „aufsehenerregend“ auszubreiten. Ab sofort ist dieser 33-jährige venezolanische Schauspieler ÉDGAR RAMÍREZ ein Star. Ein Weltstar. Denn er hat sich mit dieser Rolle, mit diesem Film bereits „unsterblich“ gemacht.

Der Film „Carlos – Der Schakal“ ist ein Meisterwerk-Ereignis von großem TV-Kino (= 5 PÖNIs).

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