DER AUFSTEIGER

DER AUFSTEIGER“ von Pierre Schoeller (B+R; Fr/Belg 2010; Co-Pr: Jean-Pierre + Luc Dardenne; 90 Minuten; Start D: 22.11.2012); eigentlich waren sie aus dem Kino-Bewusstsein abhanden gekommen, weil sie kaum noch eine Lobby hatten: POLITFILME. Filme, die etwas über unsere Gestern-Heute-Zeiten, unsere Epochen, unseren politischen War-/Ist-Zustand spannend aussagen. Doch seit einiger Zeit nähern sie sich doch wieder dem aufgeblähten und weitgehend harmlosen Mainstream unserer Lichtspielhäuser in Konkurrenz: Imposante Erfolgsbeispiele wie „Il Divo“ (Italien), „Ides of March“ / Margin Call“ (USA) oder „Barbara“ (D) lassen hoffen. Auf mehr intelligentes, hintergründiges Zeitgeschehen-Kino. Wie zum Beispiel hier. Wo es um den internen „Dampf“ der französischen Polit-Szene geht. Um die Mechanismen dort. Um die „Chronologie“ der Macht. Und ihre Ausübung. Ohne große Attacken auf „Schuldige“, sondern mit direktem scharfen Blick auf die Interna. Der Bewegungen. Der „Häupter“. Die mächtig und buchstäblich „unter Strom“ stehen. Müssen. Um in diesem erlauchten Zirkel mitmischen und bestehen zu können. Wo „Anweisungen“ nicht befohlen, sondern eher von Oben „gehaucht“ werden. Unmissverständlich. Marke: Wenn du hier mitspielst, weiter mitspielen möchtest, dann doch bitte nach den bekannten opportunen Regeln. Sprich: Ich Oberhaupt, du Untertan. Halte dich nur an meine Anweisungen und alles ist gesichert. Für dich. Und deine Familie.

Dieser „Du“ heißt Bertrand Saint-Jean und ist französischer Minister für Transport- und Verkehrswesen („Ich bin der Minister, ich bin der Verkehr“). Zwar sieht auch er die alltäglichen Kompromisse und Schräglagen, die er im Apparat abzusegnen, zu vertreten hat, dennoch zählt das dynamische Arbeitstier zu denen, die noch eine eigene Überzeugung haben. Und DIE vertritt er auch. Laut und gerade. Und die lautet – auf keinen Fall werden demnächst auch noch die französischen Bahnhöfe privatisiert. Auf Kosten von vielen Arbeitsplätzen. Doch „woanders“ ist die Entscheidung darüber längst gefallen. Dort, wo man paktiert. Weil man sich von der Eliteschule (ENA) her kennt, blind miteinander kooperiert und sich wenig um „untere Details“ kümmert. Oder um das „andere Personal“. Im hohen Hause. Richtig ist, also entschieden wird, was nützt. Taktvoll formuliert, natürlich. Der Erhalt der Macht. Darum dreht sich alles. Gestrige Aussagen, Gültigkeiten, Formulierungen…, geschenkt.

Saint-Jean (OLIVIER GOURMET) stammt nicht aus dieser Spezi-Klasse. Ist ein „normaler“ Karriererist: „Politik ist eine Wunde, die nie verheilt“, lautet sein instinktives Aufsteiger-Credo. Von gespaltenem Charme: „Du kennst mich nicht, deshalb liebst du mich“, verkündet er einmal seiner Ehefrau. Die ihn weniger sieht als sein ihn ständig begleitender weiblicher Coach, die Profi-Einflüsterin und PR-Beraterin Pauline (ZABOU BREITMAN), sowie sein Stabschef Gilles (MICHEL BLANC). Der geschickt wie unaufgeregt und kompetent im Bürohintergrund die konkreten politischen Strippen bewegt. Wie ein menschlicher Sprachcomputer. Emotionslos. Ständig erreichbar. Für seinen Maestro. Der dauernd irgendwo unterwegs ist, ständig mit zwei Handys hantiert, viel raucht und auch bemüht ist, „Volksnähe“ zu betreiben. Und schon mal bei seinem Chauffeur, einem ehemaligen Langzeitarbeitslosen, privat einkehrt. Um sich mit dessen Frau besaufend wortreich zu fetzen. Ein Unfall auf einer noch nicht freigegebenen Autobahn lässt Saint-Jean „populärer“ werden. Weil er verletzt überlebte. Doch sein Beharren auf seinen Standpunkt in Sachen Bahnhöfe bleibt offiziell inakzeptabel. Der Vertreter des Volkes hat sich zu entscheiden. Loyal oder nicht loyal, das ist jetzt die Frage.

Der oberste Hinterhof der Politik. Büros, lange Korridore, die Konferenzräume. Ein Wirrwarr von herumwuselnden Menschen. Freunde, Gegner, Parteigänger. Das Geschehen hinter verschlossenen Türen. Diskret. Routiniert. Lustvoll. Listig. Die faule Seele von MACHT. Haben. Besitzen. Ausüben. Das Paktieren. Taktieren. Kooperieren. Mit- wie gegeneinander. Man hat sich längst „vom Volk“, aber auch voneinander entfernt. Das „Nadelstreifen-Milieu“. Das wenig in der Lage ist, vernünftig zu kommunizieren. Nach „unten“ besteht ebenso wenig Sprachkontakt wie intern. Wo stets „absichtsvoll“ beobachtet, angedeutet, „ausgeführt“ wird. Um weiterhin „akzeptiert“ zu sein. Drehbuch-Autor und Regisseur Pierre Schoeller („Versailles“/2008; mit Gerard Depardieu), Jahrgang 1961, hat einen faszinierenden Spielfilm in einer packenden Art Doku-Drama inszeniert. WIE entsteht Politik. WIE macht (meistens) Mann Politik. WER macht wie Politik. Der Blick auf den inneren Zirkel der Macht. Auf die Entscheider. Im Staate. Ohne dicke Anschuldigungszuweisungen. Oder verbitterte Anklagen. Oder einen Gerechtigkeitshelden. Mit bravourösem Volksempfinden. Vielmehr – das permanente „Schauen“ auf dieses fiebrige Tun. „Dieser“ Leute. WIE sie sich bewegen. Orientieren. Wie sie „sind“. Pierre Schoeller vermittelt das beklemmende Gefühl, tatsächlich mit-dabei zu sein. Mittendrin dabei. Man wird von dieser Szenerie aufgesaugt. Weil das gesamte Ensemble von einer sagenhaft Authentizität ist. Nie kommt man auf die Idee, dass hier Schauspieler „Text“ aufsagen. Vielmehr sind DIE „wirklich“. Im Auftreten, in der nahen wie herablassenden Routine-Gestik, im denkenden, handelnden Fortbewegen. Im Aufgeben. Der individuellen Identität. Und im genüsslichen, arroganten Befinden/Mitmischen dieses exklusiven Seins. Wirkens. Wobei „Anführer“ OLIVIER GOURMET (49) als Minister Saint-Jean formidabel zwischen Würde, Betroffenheit und angepasstem Ekel großartig körpersprachlich aufzutreten, „mitzuteilen“ weiß. Ein phänomenaler darstellerischer Akt.

Was für eine überzeugende Kraft von politischem Spannungskino. Mit außerordentlich viel Realitätsduft. Und einem Metaphern-Alptraum eingangs, wenn eine nackte junge Frau im goldverzierten Büro des Herrn Ministers langsam in einen Krokodilrachen kriecht. Sowie mit der (bekannt gewordenen) vorherigen Regie-Anweisung von Pierre Schoeller an ALLE – hier doch aufzutreten, als befände man sich in einem Mafia-Epos. Weil die Assoziationen ähnlich sind: Patron, Macht, Gehilfen, treu ergebene Begleiter, Untergebene. Dort „gesetzliche“ Anweisungen, hier das Entwickeln von Gesetzen. Und amtlichen Regeln. Die sofort nichtig sind, wenn es beliebt. Den eigenen Macht- und Gewinn-Interessen besser zusagt. „Gefällt“. „L`Exercice D´Etat“, also „Übung des Staates“, wurde im Frühjahr zuhause für gleich acht französische „Oscars“ nominiert, die „Cesars“, und bekam drei (für Buch, Ton und „bester Nebendarsteller“ Michel Blanc).

„Der Aufsteiger“ zählt zu den überragenden klugen Mitdenk-Spannungsfilmen dieser Kinotage. Und überhaupt (= 4 PÖNIs).

 

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