A Most Violent Year

A MOST VIOLENT YEAR“ von J.C. Chandor (B + R; USA 2014; K: Bradford Young; M: Alex Ebert; 125 Minuten; Start D: 19.03.2015); der am 24. November 1973 in Morristown, New Jersey geborene Jeffrey McDonald “JC” Chandor zählt zu den Juwelen im amerikanischen Autoren-Kino. Für seinen Debüt-Spielfilm „Der große Crash – Margin Call“ (s. Kino-KRITIK) hatte er 2010 nur 2,8 Millionen Dollar und 17 Drehtage zur Verfügung und beeindruckte die Film-Welt (u.a. „Oscar“-Nominierung für das Drehbuch). Das Drehbuch für seinen zweiten Spielfilm umfasste nur 31 Seiten, während der allein mit Robert Redford besetzte Streifen „All Is Lost“ mit vergleichsweise spartanischen 8,5 Millionen Dollar budgetiert war (s. Kino-KRTITIK) und 2013/2014 auf sehr viel Interesse stieß und viel Zuspruch gewann (u.a. „Oscar“-Nominierung für Robert Redford).

Für seinen dritten Spielfilm konnte J.C. CHANDOR immerhin mit bereits 20 Millionen Dollar haushalten, und wieder ist ihm ein faszinierender Qualitätsstreich von aufregendem US-Kino gelungen. Thema: Amerika. Präziser: New York. Ortsteil: Brooklyn. Im Jahr 1981. Hier herrscht, gelinde gesagt, ein sehr rauhes Klima. Die Kriminalität hat den Zenit erreicht. Die Radio-Nachrichten melden ständig Verbrechen. Der Zerfall ist auch äußerlich eklig wahrzunehmen: Diese unappetitlichen schmutzigen Graffiti-Schmierereien, verwahrloste Straßen, Ruinen von ehemaligen Fabriken. In New York herrscht die latente Anwesenheit von Bedrohung und Gewalt. (Statistisch gesehen war 1981 die Kriminalitätsrate von New York auf dem Höhepunkt).

Er heißt Abel Morales (OSCAR ISAAC), ist vor geraumer Zeit aus Lateinamerika eingewandert, hat Anna geheiratet (JESSICA CHASTAIN), seinem Schwiegervater vor fünf Jahren dessen Heizöl-Firma abgekauft und macht sich nun daran, in dieser hartumkämpften Industrie-Branche profitabel mitzumischen. Zusammen mit seiner Frau, die die Bücher führt. Ihr neuester Coup soll den geschäftlichen Durchbruch bringen: Der Ankauf einer maroden Brache am Wasser. Der Deal ist finanziell risikobehaftet, doch Abel ist fest davon überzeugt, es zu schaffen. Das notwendige Kaufgeld innerhalb eines Monats aufbringen zu können. Auch ohne die „Unterstützung“ seines Schwiegervaters, einem örtlichen Paten. Die er „eigentlich“ gut „gebrauchen“ könnte, denn derzeit werden tagtäglich die Fahrer seiner LKWs überfallen. Viel Geld und Image gehen verloren. Zudem ist zu vernehmen, dass die Staatsanwaltschaft ihn im Visier hat. Ihn wegen vermeintlicher Steuerunterschlagung demnächst anklagen will. Als er sogar im eigenen Haus von einem Angreifer attackiert wird und Frau und Kinder gefährdet sind, werden die „Baustellen“ für Abel Morales immer unerträglicher. Unzumutbarer.

Normalerweise geht es jetzt „so“ in einem üblichen Hollywoodfilm weiter: Der Held, an den ökonomischen wie bürgerlichen Rand getrieben, holt die Knarre aus dem Schrank, seine Kumpels zusammen und ab geht die Gewalt-Luzie. J.C. Chandor denkt völlig entgegengesetzt, erzählt nichts davon. Porträtiert einen Mann, der „diese Spielregeln“ ablehnt. Der trotz aller Widrigkeiten sich aufmacht, „legal“ zu handeln. Auf etwas setzt, was angesichts der Vorfälle, Geschäftssituation und momentanen Gesellschaftssituation in New York völlig unüblich und geradezu wahnwitzig erscheint: MORAL. Zwar keineswegs die Backe hinhaltend, sondern hartnäckig „dagegen“ zu steuern. Gegen die An- und Übergriffe. Mit seiner ganzen Autorität. Was natürlich zu immensem Stress führt. Vor allem auch privat. Denn seine taffe Frau sieht die Toleranzgrenzen längst erreicht. Überschritten. Und würde allzu gerne „anders“ handeln. Entgegensteuern. Ganz im Sinne ihres Vaters. Doch Abel Morales ist nicht aus seiner Balance zu kriegen („Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, kein Gangster zu sein“).

Ich lasse mich nicht ein: Auch äußerlich wirken diese Signale. Wenn Abel mit seinem sandbraunen, schmucken Kamelhaarmantel souverän auftritt. Und Anna, mit blondem Haar und teuren weißen Satinblusen, von wegen zart und zerbrechlich dominiert. Und ihren Gatten schon mal spöttisch „Mr. American Dream“ tituliert. Wir schaffen es, tönt es aus allen Poren. Während die aufgescheuchte Konkurrenz „pikt“ und der Gewerkschaftsboss die Bewaffnung der Fahrer wünscht. Und sogar der schwarze Karriere-Staatsanwalt Lawrence (DAVID OYELOWO; noch in den Kinos als Dr. Martin Luther King Jr. in „Selma“ triumphierend) schließlich korrupten Geschäftscharme entwickelt.

Der amerikanische Traum. Packe an, dann kriegst du ihn. Für Abel Morales ein Alptraum. Er will, unbedingt, aber „darf“ nicht. Tüchtig, ehrenhaft, voller Energie mitmischen. Weil es fiesen Nachbarn und Konkurrenten nicht gefällt. Kriminalität und Geschäftstüchtigkeit haben sich längst innig verbrüdert. Was also tun? Und wie? Und: Warum??? Ist das System dermaßen schmutzig? Ronald Reagan ist gerade, als 40. Präsident, an die Macht gekommen.

„A Most Violent Year“, ein besonders gewalttätiges Jahr, ist permanent spannend. Anregend. Darstellerisch wie atmosphärisch brillierend. In Stimmung und Gedanken. Mit Sogwirkungs-Bildern. Vom zähneklappernden Damals-New York. Mit seinem vielen Kaputten. Der Film funktioniert prächtig als kribbelnder Milieu-Thriller. Und als packendes Charakter-Drama. Erinnerungen an die „New Hollywood“-Filme von Francis Ford Coppola („Der Dialog“/1974) oder Sidney Lumet („Prince of the City“/1981) mit ihren ambivalenten Strategien werden wach: Keine schnellen Eindeutigkeiten, sondern Zwiespalt-Atmosphäre. Verunsicherung. Unsicherheit. Das amerikanische Traum- wie Trauma-Leben in all seinen Facetten. Einst.

Nur einst? „A Most Violent Year“ besticht als intelligenter Unterhaltungsgigant (= 4 ½ PÖNIs).

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