3096 TAGE

„3096 TAGE“ von Sherry Hormann (D 2012; B: Bernd Eichinger, Ruth Toma; nach der gleichnamigen Autobiografie von Natascha Kampusch; K: Michael Ballhaus; M: Martin Todsharow; 109 Minuten; deutscher Kino-Start: 28.02.2013); natürlich Skepsis. Warum? Dieser Film? Mit dem bekannten Ausgang? Gäbe nicht eine dreiviertelstündige ARD-Dokumentation in der Reihe „Die großen Kriminalfälle“ mehr her? Nach der Filmbesichtigung bin ich geplättet. Und „angetan“. Wenn man es überhaupt SO formulieren darf. Sollte. Aber – dies hier ist die Kritik über einen Film. Und innerhalb dieser Kategorie zählt dieser neue deutsche Film zu den derzeit wertvollsten Überraschungen. Er ist inhaltlich angenehm „dezent“, darstellerisch außerordentlich intensiv, und eben nicht als voyeuristisches Spektakel inszeniert, sondern als entsetzlich bewegendes, berührendes Spannungskammerspiel. Um ein fürchterliches kriminalistisches Ereignis. Um eine unfassbare Tragödie. Die einmal mehr von der dunklen, widerwärtigen Menschen-Seite berichtet. Weshalb einem anderen Menschen unendliches Leid „passiert“. Ist.

Zu den nüchternen, grauenvollen Fakten: Am 2. März 1998 wird die damals zehnjährige Natascha Kampusch entführt. In Wien. Von dem 36-jährigen arbeitslosen Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil. Am 23. August 2006, nach genau 3096 Tagen, also nach mehr als acht Jahren, gelingt ihr die Flucht. Die überwiegende Zeit verbrachte Natascha Kampusch in einem rund 2 mal 3 Meter kleinen Verlies, das der Entführer unter der Garage seines Hauses in Strasshof bei Wien ausgehoben hatte. Sorgfältig und lange geplant. Der Film „3096 Tage“ handelt von dieser Gefangennahme, der Gefangenschaft. Für die Verfilmung dieses Martyriums wurde „die Zelle“ von Natascha Kampus vom Szenenbildner BERND LEPEL („Der Untergang“/2004) in den Münchner Bavaria Studios originalgetreu nachgebaut. Sozusagen 1:1 so eingerichtet wie damals von Priklopil.

Drei Darsteller, drei wunderbare Schauspieler. Als Vermittler. Nicht als gute oder böse Helden. Sondern als Vermittler von Menschen. Die, darf man es „schicksalhaft“ nennen, zusammen“treffen“. Die kleine Natascha Kampusch: AMELIA PIDGEON, Jahrgang 2001. Aus England. Geboren in Torquay und aufgewachsen im Moretonhampstead. Tochter eines Hufschmieds und einer Friseurin. Trat ohne jedwede Schauspielerfahrung an. Wirkt scheulos. Sagenhaft „normal“. Also voller Ängste, Unsicherheit, Fassungslosigkeit. Eben so wie „man“ wohl als „junges Ding“ reagiert. Auf „das“. Das Gesicht von Amelia Pidgeon. Der Einstieg in diesen Film wirkt ungeheuerlich. Überrumpelnd. Dank dieser großen kleinen (Film-)Person. Natascha Kampusch ab 14: Sie heißt ANTONIA CAMPBELL-HUGHES. Wurde 1982 in Nordirland als Tochter eines Engländers und einer Irin geboren. Wuchs in den USA, in Deutschland und der Schweiz auf. Konzentriert sich seit 2005 auf ihre Schauspielkarriere. Trat in BBC-Serienproduktionen auf. 2011 spielte sie in „Albert Nobbs“ an der Seite von Glenn Close. Als Antonia Campbell-Hughes im Februar 2012 auf der Berlinale den „Shooting Star Award“ erhielt, begründete die Jury ihr Urteil mit den Worten: „Antonias Schauspiel ist verführerisch minimalistisch, aber beweist zugleich ein überwältigendes Charisma“.

In „3096 Tage“ ist die junge Frau überwältigend. In dem zumeist stillen Bemühen, das seelische Leid, die vielen viehischen Züchtigungen „darzustellen“. Unaufdringlich wie dennoch „Kino“-packend die körperlichen Strapazen einer ständig gepeinigten, gequälten, misshandelten, gedemütigten jungen Frau so eindringlich vorzuführen, dass man es „übernimmt“. Mitbangt. Mit ihr „geht“. Durch diese Qual. Quälerei. Eines widerwärtigen Nicht-Monsters. Eines „ganz normalen“ Muttersöhnchens. Gestörten. Irren. Psychopathen. Dem man in die Fresse springen möchte. Und der doch bisweilen „irgendwie“ auch so „menschlich“ daherkommt. Diesen Wolfgang Priklopil so zu bewegen, hinzukriegen, zwischen Ekel, Wut, Abscheu und „spannender“ Wahnsinnsnähe, ist der Verdienst des 38-jährigen dänischen Schauspielers THURE LINDHARDT (in der US-Großproduktion „Illuminati“ 2009 nicht sonderlich aufgefallen). WIE er sich in diese Satansfigur undämonisch hineinbegibt, wie er diese extrem gespaltene „Normalfigur“ völlig unverkrampft, absolut glaubhaft und nie eindimensional vorstellt, ist fürchterlich–gut. Sehr überzeugend. Thure Lindhardt bindet. Vorzüglich. Hochemotional. Bei aller Wut. Bei aller Verzweiflung. Beim Zusehen. Und Zuhören. Mit seinen hölzernen wie gradlinigen Bewegungen. Mit seinen gestörten, verstörenden Gesten. Seinem widerwärtigen „Rumgemache“. Als „Herrscher, Beherrscher“ einer „Partnerin“. THURE LINDHARDT ist entsetzlich „toll“. Dieser Typ unterhält einfach großartig-eklig. Absolut authentisch. Wie eben auch seine „beiden Mädels“.

Wir befinden uns im Kino. Unterhaltung, also Spannung, ist annonciert. Doch diesmal eben nicht als lautes Spektakel, sondern als spannende Unterhaltungsinformation. Über tatsächliches Geschehen. Von neulich. Diesen Kino-Spagat ebenso seriös wie unter die Haut gehend emotional–klug hinzubekommen, ist der immense Verdienst dieses ebenso erstaunlichen wie, pardon, „begeisternden“ deutschen Films (= 4 1/2 PÖNIs).

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